Wortfrequenzlisten statt Prosa
In dem 1979 (deutsche Ausgabe 1983) erschienenen Roman „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ von Italo Calvino wird in einer Episode die schriftstellerische Horrorvision beschrieben, nach der in der Zukunft Romane anhand EDV-generierter Wortfrequenzlisten quer gelesen werden würden: Computer würden neue Romane innerhalb weniger Minuten in Wortlisten zerlegen, nach ihrer Häufigkeit im Text geordnet; die Analyse dieser Listen würde schnelle Rückschlüsse sowohl auf die zentralen als auch auf die verdrängten Inhalte ermöglichen und somit das eigentliche Lesen der Romane unnötig machen.
Jedes Wort, das ich schreibe, sehe ich schon durch Elektronengehirne geschleudert, zentrifugiert, nach Maßgabe seiner Frequenz neben irgendwelche anderen Wörter gestellt, und frage mich bang, wie oft ich es schon gebraucht haben mag, fühle die ganze Verantwortlichkeit des Schreibens auf diesen isolierten Silben lasten, versuche mir vorzustellen, welche Schlüsse man daraus ziehen könnte, daß ich dieses eine Wort fünfzigmal oder nur einmal verwendet habe.
Calvino verweist in einer Fußnote des italienischen Originals auf die 1973 von Mario Alineiaus herausgegebene Studie „Spogli elettronici dell’italiano letterario contemporaneo“ (Elektronische Sichtung der zeitgenössischen italienischen Literatursprache).
Heute wissen wird, dass diese Vision glücklicherweise nicht Wirklichkeit wurde, und wir lächeln über die naiven Vorstellungen, die man Ende der 1970er Jahre noch in die künftigen Einsatzgebiete von Computern und ihre Auswirkungen auf die Schriftstellerei projizierte.
Wortfrequenzlisten in den Google Webmaster-Tools
Im Rahmen von SEO-Optimierungsmaßnahmen für eines meiner Projekte kontrollierte ich heute eine Keyword-Liste in den Google Webmaster-Tools:
Im Folgenden wird eine Liste der häufigsten Keywords angezeigt, die Google beim Crawlen Ihrer Website gefunden hat. Diese Keywords sollten den Gegenstand Ihrer Website widerspiegeln.
Ich war mit dem Ergebnis gar nicht zufrieden. Offenbar hatte ich beim Erstellen meiner Texte die Wortfrequenzen wichtiger Schlüsselbegriffe nicht im Auge behalten, was dazu führte, dass Google der Website unerwünschte inhaltliche Schwerpunkte zuordnete.
Internet-Texter müssen in Wortfrequenzen denken
Die Horrorvision Calvinos war eben doch nicht naiv und ist für jeden Webdesigner und Internet-Texter längst bittere Realität geworden. Wer heute Texte schreibt und möchte, dass sie suchmaschinenoptimiert über Google Traffic generieren, muss in Wortfrequenzen denken. Klassische Maxime für guten Textstil – abwechslungsreiche Sprache, Verwendung von Synonymen – lassen sich dabei kaum noch verfolgen.
Das ist noch eine der weniger bedenklichen Veränderungen, die Google verursacht. :-(